20. Oktober 2022 | Team

Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation und die drohende Rezession mit allen ihren Nebenwirkungen hinterlassen in zahlreichen Branchen ihre Spuren. Staatshilfen, die Aussetzung bzw. Verlängerung von Insolvenzantragsfristen oder die Verkürzung des Prognosezeittraums bei der insolvenzrechtlichen Überschuldungsprüfung sind keine nachhaltigen Lösungen. Auch Statistiken, die jüngst sogar noch einen Rückgang der Unternehmensinsolvenzen zeigten, können nicht drüber hinwegtäuschen: Etliche Marktteilnehmer befinden sich in einer (oftmals unverschuldeten) Krise. Damit stellen sich nicht nur für die Geschäftsleiter der betroffenen Unternehmen drängende Fragen aus dem Sanierungs- und Insolvenzbereich, sondern ebenso für die Eigentümer dieser Unternehmen. Einigen dieser Fragen möchten wir mit einer Reihe von Kurzbeiträgen nachgehen.

Folge 1: Existenzvernichtungshaftung versus Freiheit zur Beendigung der Gesellschaft

Beginnen möchten wir heute mit der sogenannten Existenzvernichtungshaftung. Dabei geht es um Folgendes:

Gesellschafter mögen in Krisenzeiten geneigt sein, Vermögenswerte aus ihrer Gesellschaft abzuziehen, bevor es zu spät ist, oder Verträge, die sie in guten Zeiten mit ihrer Gesellschaft geschlossen haben und aus denen ihre Gesellschaft Liquidität generiert, zu kündigen. Hierbei ist allerdings größte Vorsicht geboten. Denn während der Abzug von Vermögenswerten oberhalb der Stammkapitalziffer grundsätzlich möglich ist und auch in der Regel kein Gesellschafter verpflichtet ist, zur dauerhaften Erhaltung des Unternehmens erforderliche Investitionen weiterhin zu tätigen, sieht es in den folgenden Fällen anders aus:

  • Übertragung überlebenswichtiger Patente oder Produktionsmittel;
  • Entzug überlebenswichtiger Geschäftschancen, Lizenzen oder Produktionslinien;
  • Kündigung und Übertragung überlebenswichtiger Miet- oder Pachtverträge.

Diese und vergleichbare Konstellationen können den Tatbestand der sogenannten Existenzvernichtungshaftung erfüllen. Die gesetzlich nicht ausdrücklich normierte Haftung eines Gesellschafters ist von der Rechtsprechung geschaffen worden, um eine Schutzlücke im GmbH-Recht zu schließen. Sie wird auf § 826 BGB gestützt und mittlerweile als reine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft verstanden, die im Insolvenzfall vom Insolvenzverwalter geltend gemacht wird. Ihre Anwendung auf Aktionäre einer Aktiengesellschaft ist umstritten.

Immer aber geht es vereinfacht gesagt darum, dass (i) ein Gesellschafter seiner Gesellschaft der Gläubigergesamtheit zur Befriedigung dienendes Vermögen entzieht oder umleitet, (ii) die Gesellschaft dadurch insolvent wird oder eine bereits vorliegende Insolvenzreife dadurch vertieft wird („Weichenstellung ins Aus“), (iii) der Gesellschafter vorsätzlich handelt (bedingter Vorsatz genügt) und der Vermögensentzug sittenwidrig ist (wovon im Regelfall auszugehen ist).

Liegen diese Voraussetzungen vor, haftet der betreffende Gesellschafter nach den §§ 249 ff. BGB auf Herstellung des Zustands, der ohne die Existenzvernichtung bestehen würde, d.h.: (i) für den gesamten Ausfall der Gläubiger, wenn die Gesellschaft durch den Vermögensentzug insolvent geworden ist, und (ii) für den Quotenschaden (= Verschlechterung der Insolvenzquote), wenn eine bereits vorliegende Insolvenzreife durch den Vermögensentzug lediglich vertieft worden ist.

Es mag sich die Frage aufdrängen, ob sich aus der Existenzvernichtungshaftung für Gesellschafter ein Zwang zur Fortsetzung ihrer Gesellschaft ergibt. Dies ist eindeutig nicht der Fall. Gesellschafter haben grundsätzlich jederzeit das Recht, ihre Gesellschaft zu beenden. Nur müssen sie dies im Rahmen eines Liquidations- oder Insolvenzverfahrens als den beiden dafür im Gesetz vorgesehenen Verfahren tun. Außerhalb dieser Verfahren ist ein Vermögenszugriff auf die Entnahme desjenigen Überschusses begrenzt, der nicht zur Erfüllung von Gesellschaftsverbindlichkeiten benötigt wird.

 

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